Kieler Erinnerungstag:1. Juli 1909
Gründung der Volksküche in der Boninstraße
Am 1. Juli 1909 fand die feierliche Einweihung einer zweiten Volksküche in der Boninstraße in Anwesenheit des Kieler Oberbürgermeisters Dr. Paul Fuß und des Wortführers der „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ Pastor Mau statt. Die erste Volksküche in Kiel war 1878 entstanden, auf Initiative der Gesellschaft war nun eine zweite eingerichtet worden.
Soziale Hilfe durch die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“
Die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ hatte in Kiel eine große Bedeutung für die Linderung von in Not geratenen Menschen. Ein soziales Netz, das Kranke, Arbeitslose und Alte auffing, existierte im 18. Jahrhundert noch nicht. In Kiel gab es vier Armenanstalten, die höchstens 64 Personen aufnehmen konnten. Bei zunehmender Bevölkerungszahl reichte diese Armenfürsorge nicht aus. Der Staat musste daher das Betteln dulden. Aus Kiel hieß es 1791: „Nicht selten zogen junge und rasche Personen scharenweise zu diesem Gewerbe aus und schreckten auch vor Schimpfen und Drohungen nicht zurück. Herumstreifende Handwerksgesellen wurden dem Bürger eine Last, ärger aber noch verabschiedete Soldaten, die auf ihren Abschied trotzten und dadurch ein Recht in Händen zu haben sich einbildeten, jedermann in Kontribution zu setzen.“
Trotz verschiedener Versuche konnte der Staat die sozialen Probleme allein nicht lösen. Ausgehend von dem Humanitätsgedanken der Aufklärung ergriff der Kieler Professor für Kameralistik August Christian Heinrich Niemann die Initiative. Gemeinsam mit gebildeten und wohlhabenden Bürgern der Stadt gründete er 1793 die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“. Diese kümmerte sich von nun an freiwillig und unentgeltlich um die Probleme der Armen in Kiel. Ziel der Gesellschaft war, allen arbeitsfähigen Armen Arbeit zu verschaffen, sie und ihre Kinder gegebenenfalls mit Arbeitsmethoden vertraut zu machen, Arbeitsunfähige zu unterstützen, Kranke kostenlos zu betreuen, für geregelten Schulunterricht zu sorgen und den Sparsinn zu fördern. Oberstes Ziel aber war die Hilfe zur Selbsthilfe, um eine Veränderung der persönlichen sozialen Verhältnisse der Betroffenen zu erreichen. Dazu bedurfte es verschiedener Einrichtungen. So entstanden 1793 die Freischule für arme Kinder, 1796-1799 die Spar- und Leihkasse, 1832 eine Zwangsarbeiteranstalt für Müßiggänger und Trunkenbolde.
1871 ging die Armenpflege im Deutschen Reich an die Gemeinden über. Die bisherigen Aufgaben der „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ übernahm nun die Stadt. Die Gesellschaft suchte sich neue Aufgaben. Sie blieb dabei, „innerhalb der Stadt Kiel gemeinnützige Bestrebungen durch ihre Tätigkeit zu fördern und mit Geldmitteln zu unterstützen“ und „entstehender Armut vorzubeugen, vorhandener Not abzuhelfen, für die sittliche, geistige und wirtschaftliche Hebung der unvermögenden Einwohner zu sorgen“. 1873 entstand die Volksbibliothek, 1877 eine Fortbildungsschule für erwachsene Mädchen, aus der die Frauengewerbeschule hervorging, 1878 die Volksküche und 1890 das Kaiser-Wilhelm I.-Stift für alte und gebrechliche Personen, um nur einige der Einrichtungen zu nennen. Daneben kümmerte sich die Gesellschaft um die Betreuung bedürftiger Kinder, bereitete Mädchen auf Hausfrauenpflichten vor, veranstaltete Schülerausflüge und Sommeraufenthalte, beteiligte sich am Aufbau des Gesundheits- und Krankenwesens und versuchte, die Wohnungsnot zu lindern.
Eine warme Mahlzeit für Bedürftige in der Stadt
Als eine wichtige Einrichtung der „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ galt die Volksküche, die nach mehreren gescheiterten Versuchen 1878 gegründet wurde. Im Winter 1877/78 hatte es häufig Bitten von Armen um Lebensmittel gegeben. Auch bei Alleinstehenden, die außerhalb ihrer Wohnung tätig waren, keine Beköstigung bekamen und nur wenig verdienten, wie z. B. Gesellen, Arbeiter, Näherinnen oder Schneiderinnen, bestand das Bedürfnis nach einer einfachen, schmackhaften und kostengünstigen warmen Mahlzeit. So entstand 1878 auf Initiative zweier Kieler Damen ein „Verein zur Errichtung einer Volksküche“, der sich an den Magistrat und die Gesellschaft um finanzielle Unterstützung wandte, weil beide über Geldreserven für diesen Zweck verfügten. Gemietet wurde das Parterre im Professorenhaus, einem Gebäude in der Waisenhofstraße, in der Lehrer wohnten. Am 1. Oktober 1878 eröffnete hier die Volksküche ihren Betrieb.
300 Mahlzeiten wurden jeden Mittag hier ausgegeben, 30 Pfennige für die ganze Portion, 15 Pfennige für die halbe. Bald kauften die Besucher zunehmend zwei halbe Portionen, weil sie die Erfahrung gemacht hatten, dass sie dann mehr auf dem Teller hatten. Der Ausweg war eine Preiserhöhung der halben Portion auf 20 Pfennige. Der Andrang in der Waisenhofstraße war mittags groß. Fast alle Besucher kamen innerhalb einer Stunde. Die drei Zimmer, von denen eins für Frauen und Kinder reserviert war, fassten aber nicht mehr als 70 Personen. Mehr als ein dreimaliger Wechsel der Plätze war nicht möglich. Ein Ausweg musste gefunden werden.
Die Volksküche zieht an den Klosterkirchhof
Die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ ergriff die Initiative. Sie war bisher nur Mitglied des Vereins Kieler Volksküche gewesen. 1884 wurde die Volksküche ein „zu ihr gehörendes Institut“. Die Gesellschaft baute für eine Mädchenherberge zur Aufnahme von vorübergehend stellenlosen Mädchen und für die Speiseanstalt ein neues Haus am Klosterkirchhof. Am 1. Mai 1885 fand die Eröffnung statt. Im ersten Stock entstand ein Zimmer für Gäste, die an einem weiß gedeckten Tisch essen wollten. Für diesen Luxus mussten sie einen Aufpreis von 3 Pfennigen zahlen.
Die schmackhaften, abwechlungsreichen und preiswerten Mahlzeiten waren beliebt. Nach zeitweisen Besucherrückgängen war seit 1898/99 eine Zunahme der Gästezahl fast um 50% zu verzeichnen, so dass der Volksküchenausschuss 1901/02 bei der Gesellschaft den Antrag stellte, eine zweite Volksküche zu errichten. Der Platzmangel am Klosterkirchhof war erheblich, obwohl man die Räume der Mädchenherberge schon nutzte und den Mietvertrag mit der Haushaltungsschule im Gebäude gekündigt hatte. Die Kapazitäten der Volksküche reichten für 600 Essensportionen. Im Jahre 1907 kamen aber täglich 700 bis 800 Personen. Vermutlich lagen die Ursachen für diese Entwicklung darin, dass die Zahl der Speisewirtschaften in der Stadt abnahm. Auch wuchs mit der Bevölkerungswachstums Kiels die Zahl der Arbeitsplätze an.
Eine zweite Volksküche in der Boninstraße
Im Frühjahr 1906 nahm der Plan, eine zweite Volksküche zu errichten, konkrete Formen an. Anlässlich der Silberhochzeit des Kaiserpaares stellten die Kieler Stadtkollegien 100 000 Mark zur Verfügung, die später auf 120 000 Mark erhöht wurden. Errichtet wurde die neue Volksküche in der Boninstraße auf einem Grundstück, das der Gesellschaft gehörte. Die feierliche Einweihung fand am 1. Juli 1909 statt.
Im Erdgeschoss befand sich sich in einem kleinen Saal die Essensausgabe und ein großer Speisesaal. Im ersten Obergeschoss gab es drei Speisesäle mit gedeckten Tischen, weißen Tischtüchern, Servietten und Bedienung. Im zweiten und dritten Obergeschoss befanden sich mehrere Wohnungen. Der Keller und das Seitengebäude wurden als Küche und Wirtschaftsräume genutzt. Die neue Volksküche mit der bessere Ausstattung und der gemütlichen Atmosphäre war sehr beliebt.
Schmackhaftes und preiswertes Essen in den Weltkriegen und wirtschaftlich schwierigen Zeiten
Vor allem während des Ersten Weltkrieges war eine beträchtliche Umsatzsteigerung zu verzeichnen. Die zunehmende Lebensmittelknappheit und die Schwierigkeit, im eigenen Haushalt eine vernünftige Mahlzeit zuzubereiten, erhöhte die Zahl der Besucher. Wurde in beiden Volksküchen 1913/14 noch 76 800 Essensportionen ausgegeben, waren es 1916/17 schon 489 146 Mahlzeiten. Besucher waren Angehörige von Soldaten, ein Teil der ärmeren Bevölkerung und Schulkinder. Auch die Rüstungsbetriebe in Kiel ließen für einige Zeit die bei ihnen beschäftigten Frauen, die weder Zeit noch Lebensmittel zum Kochen hatten, durch die Volksküche versorgen.
Nach dem Ersten Weltkrieg ging der Umsatz der Volksküche zurück. Um rentabler arbeiten zu können, wurde 1920 die Volksküche am Klosterkirchhof geschlossen. Große Bedeutung gewann die Volksküche aber während der Inflation und der Weltwirtschaftskrise mit der großen Zahl der Arbeitslosen. Die Küche wurde 1930 „fast bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit ausgenutzt“. 3000 Gäste wurden täglich mit einer warmen Mahlzeit versorgt.
Eine weitere Herausforderung entstand während des Zweiten Weltkrieges. Schon 1939 waren Lebensmittelkarten eingeführt worden. Die Versorgung der Bevölkerung wurde mit jedem Kriegsjahr schwieriger. 1941 kochte die Volksküche täglich 1450 Essen. Der sonst im voraus veröffentliche Speiseplan konnte nicht mehr erscheinen, weil man nie wusste, welche Lebensmittel für den nächsten Tag vorhanden waren. Obwohl die Volksküche während des Krieges Bombenschaden hatte, wurde Tag und Nacht gearbeitet. Neben den eigenen Gästen versorgte man Kinder- und Jugendlager, Kinderhorte, die Kieler Stadtmission und diejenigen Kieler, die bei Bombenangriffen ihre Wohnung und damit ihre Kochgelegenheit verloren hatten.
Die Volksküche hilft nach dem Krieg zu überleben
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ernährungslage katastrophal. Zwar gab es immer noch Lebensmittelkarten, aber häufig waren die Produkte gar nicht zu kaufen. Kieler gingen wie alle Deutschen damals aufs Land um zu hamstern, tauschten auf dem Schwarzen Markt Lebensmittel ein, griffen zu Ersatzstoffen wie Eicheln, Kastanien, Bucheckern, Brennnessel oder Löwenzahn. Das Essen aus der Volksküche war für viele lebensnotwendig geworden. 1946 erhielten 1000 besonders gesundheitsgefährdete Kinder durch die Volksküche ihre einzige warme Mahlzeit am Tag. Später waren es sogar 3000. Außerdem kamen täglich 1500 Gäste in die Volksküche. Auch einzelne Betriebe wurden versorgt. Sogar nach der Währungsreform kamen noch viele Besucher in die Volksküche, da ihnen das Geld für das tägliche Leben fehlte.
1964 schloss die Volksküche in der Boninstraße wegen veralteter Einrichtungen und weil die Zahl der Bedürftigen rückläufig war. Eine Speiseanstalt im großen Stil hatte sich in der Zeit des Wirtschaftswunders überlebt.
Tomatensuppe, Frikadelle, Gemüse und Gulasch für Rentner und Obdachlose
Die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ entschloss sich aber, die Volksküche vier Jahre später im kleinen Stil im Kaiser-Wilhelm I.-Stift weiterzuführen. Berechtigt, in der Volksküche zu essen, waren diejenigen, die über gar kein oder nur ein geringes Einkommen verfügten. Besucher waren zumeist gebrechliche und kranke Rentner der Umgebung und Obdachlose. Für 2.50 DM war das Essen wie üblich abwechslungsreich und nahrhaft: z. B. Gemüsesuppe, Püree mit grünen Bohnen oder Tomatensuppe , Frikadelle, Kartoffel und Gemüse oder Kassler mit Sauerkraut. 50% der Kosten trug die Gesellschaft.
Das Aus für die Volksküche
Um 1990 setzte eine Veränderung ein. Rentner kamen kaum noch, weil es Streit mit den Obdachlosen gab und sie sich in dieser Atmosphäre nicht mehr wohlfühlten. Die Obdachlosen erschienen meistens satt in der Volksküche, weil sie schon bei der Kirche oder im Elisabeth-Krankenhaus gegessen hatten. Auch nüchtern waren einige nicht mehr. Sie aßen nur noch das Fleisch, das es täglich in der Volksküche gab, und den begehrten Nachtisch. Anschließend lagerten sie im Garten des Kaiser-Wilhelm I.-Stifts. Es wurde laut, es gab Krach, es kam zu Vandalismus. Täglich musste die Polizei gerufen werden. Die Bewohner des Stiftes beschwerten sich, sie hatten auch Angst.
Die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ entschied im August 1996, die Volksküche zu schließen. Damit ging nach über 100 Jahren eine Kieler Tradition zu Ende. Seither widmet die Gesellschaft sich verstärkt der Seniorenarbeit.
Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)
Literatur
Graber, Erich
Kiel und die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde 1793-1953. Ihr soziales, kulturelles und wirtschaftliches Wirken, Kiel 1953
Schadow, Perdita
Nahrungsversorgung und Nahrungsgewohnheiten, in: Materialien zur Kulturgeschichte Kiels in der Zeit des Zweiten Deutschen Kaiserreiches 1871-1918, hrsg. von Kai Detlev Sievers, Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 8, Kiel 1979, S. 174-177
Sievers, Kai Detlev und Karin Stukenbrock
„Christliches Wohlwollen und braver Bürgersinn“. Private und öffentliche Fürsorge in Kiel und ihre Bemühungen um die Lösung sozialer Probleme. Festschrift zum 200jährigen Bestehen der Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde, Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 27, Neumünster 1993
Zeitungen
Kieler Nachrichten
vom 19./20 Dezember 1953, vom 18. Februar 1981, vom 3. Januar 1986, vom 29. Mai 1993, vom 2. Oktober 1993, vom 23. August 1996
Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 1. Juli 1909 | Gründung der Volksküche in der Boninstraße und des Erscheinungsdatums 01. Juli 2009 zitiert werden.
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