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Geschäftliche Mitteilung - 0779/2020
Grunddaten
- Betreff:
-
Entwicklung der Jugendkriminalität im Jahr 2019
- Status:
- öffentlich (Drucksache abgeschlossen)
- Drucksachenart:
- Geschäftliche Mitteilung
- Federführend:
- Jugendamt
Beratungsfolge
Status | Datum | Gremium | Beschluss | NA |
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Erledigt
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Jugendhilfeausschuss
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Kenntnisnahme
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Oct 21, 2020
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Erledigt
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Ausschuss für Soziales, Wohnen und Gesundheit
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Kenntnisnahme
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Oct 22, 2020
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Erledigt
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Innen- und Umweltausschuss
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Kenntnisnahme
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Nov 3, 2020
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Sachverhalt/Begründung
Das Jugendamt informiert den Jugendhilfeausschuss, den Ausschuss für Soziales, Wohnen und Gesundheit und den Innen- und Umweltausschuss über die Entwicklung der Jugendkriminalität im Kieler Stadtgebiet.
Seit 1996 erhebt und dokumentiert das Jugendamt die städtischen Daten zur Jugendkriminalität. Die Darstellung des Berichtszeitraums 2019 erfolgt in komprimierter Form. Für 2021 ist geplant, das Berichtsjahr 2020 wieder mit fachlichem Exkurs aufzubereiten.
Zur Einordnung:
Unter das Jugendstrafrecht (JGG) fällt der Personenkreis der 14- bis unter 21-Jährigen.
Die Datenerhebung differenziert nach Jugendlichen (14- bis unter 18-Jährige) und Heranwachsenden (18- bis unter 21-Jährige). Anders als in der polizeilichen Kriminalstatistik (Tatortbezug) werden vom Allgemeinen Sozialdienst ausschließlich in Kiel gemeldete Personen (Wohnortbezug) registriert. Die Zahlen sind nur eingeschränkt vergleichbar. Allerdings gleichen sich auch in diesem Jahr Erkenntnisse und Trends. Der – gemessen an der Bevölkerungszahl – überdurchschnittlich hohe Anteil an Delinquenz bei den 14- bis 21-Jährigen… „wird bereits seit Jahren festgestellt und im Allgemeinen mit der entwicklungstypischen Phase junger Menschen erklärt.“[1]
Für die städtische Berichterstattung werden anonymisierte Daten zur Person, zu Art, Umfang und Schwere der Taten sowie zum Ausgang der Verfahren genutzt.
Drei an der Wirklichkeit angelehnte Beispiele illustrieren die Komplexität und Individualität der Sachverhalte, die sich in der städtischen Datenlage spiegeln.
Beispiel 1: Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen die 17-Jährige Jana Anklage. Ihr werden verteilt auf drei Anklageschriften insgesamt 63 Betrugsdelikte (im Internet) zur Last gelegt. Das Jugendgericht verurteilt sie in 14 Fällen. Sie wird verwarnt und muss 100 Arbeitsstunden leisten.
Beispiel 2: Nach Intensivierung der Kontrollen in Bussen und Bahnen wurden im Vergleich zum Vorjahr deutlich mehr Anzeigen erstattet, polizeiliche Ermittlungsverfahren aufgenommen und staatsanwaltschaftliche Anklagen erhoben. Karl (19 Jahre) ist einer von insgesamt 45 Heranwachsenden, die sich in 127 Fällen wegen Beförderungserschleichung zu verantworten haben. Das Gericht stellt das Verfahren gegen Karl ein.
Beispiel 3: Lars, Lutz, Metin und Raoul (alle minderjährig) sind in 8 Fällen des gemeinschaftlichen Raubes angeklagt. Lutz hat sich wegen weiterer Delikte zu verantworten. In 4 Fällen wegen Nötigung und Bedrohung und in 7 Fällen wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln, Er gilt als Intensivtäter. Die Taten aller Angeklagter ereigneten sich in 2019. Das Verfahren gegen Lutz wird abgetrennt. Die Abschlüsse der Verfahren am Jugendgericht werden erst in 2020 erwartet.
Zuständigkeiten, Aufgaben und strukturelle Verzahnung der am Verfahrens beteiligten Institutionen wurden in der kommunalen Jugendkriminalitätsberichterstattung der letzten drei Jahre aufgezeigt. Im Bericht mit der Drucksachennummer 0875/2019 werden die Handlungsfelder der Jugendarbeit und der schulischen Jugendsozialarbeit beschrieben. Der Bericht zum Jahr 2017 enthält einen Praxisexkurs zur Kooperation zwischen Polizei und Jugendamt im Sozialraum Gaarden (Drucksache 0638/2018). Der Jahresbericht 2016 (Drucksache 1111/2017) gibt einen Überblick „von der Tat zum Urteil“ und stellt die individualpädagogischen Zugänge des Jugendamtes dar.
Die städtischen Ergebnisse für 2019 im Überblick:
Tab. 1: Straftäter*innen, Anzahl der Straftaten und Anklagen
Straftäter*innen und Jugendkriminalitätsdichte:
In 2019 sind 783 in Kiel lebende Menschen im Alter zwischen 14 und unter 21 Jahren straffällig geworden. Die Jugendkriminalitätsdichte beträgt 4,8 %[2]. Sie liegt mit einem Prozentpunkt über dem Vorjahreswert und ist identisch mit dem Wert des Jahres 2013.
Der Anstieg bei den Jugendlichen ist deutlich höher als bei den Heranwachsenden.
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Abb. 1: Anteil der jungen Straftäter*innen in Kiel in % im Zeitraum 2010 bis 2019[3]
Jugendkriminalitätsdichte nach Sozialräumen:
Der Allgemeine Sozialdienst ist unterteilt in sechs Sozialzentren. Ein Anstieg der Jugendkriminalitätsdichte ist in jedem Zentrum zu verzeichnen; die Höhe variiert stark. Sozialräumlich betrachtet bleiben die Sozialzentrumsbezirke Nord (3,2 %), Süd (4,3 %) und Mitte (3,3 %) unter dem Durchschnittswert. Die Quote im Einzugsgebiet des Sozialzentrums Mettenhof (4,9 %) liegt minimal über dem Schnitt. Der Sozialzentrumsbezirk Ost hat einen Anstieg um 1,3 Prozentpunkte auf 6,5 % und der Sozialzentrumsbezirk Gaarden verzeichnet mit einem Plus von 2,6 % einen sehr deutlichen Anstieg.
Abb.2: Jugendkriminalitätsdichte nach Sozialzentrumsbezirke; 2018 und 2019
Straftaten:
Die Anzahl der im Jugendamt registrierten Straftaten liegt mit 1.788 leicht unter dem Vorjahresniveau.
Abb. 3: Anzahl der Straftaten; 2010 bis 2019
Anklagen:
Das Jugendamt hat in 2019 441 Anklagen erfasst. 178 Anklagen betreffen die Altersgruppe der Jugendlichen und 263 betreffen Heranwachsende. Eine Anklageschrift enthält einen Tatvorwurf oder mehrere Tatvorwürfe. Die Zahl der Anklagen durch die Staatsanwaltschaften ist im Vergleich zu 2018 von 570 auf 441 gesunken. Das entspricht einem Rückgang um 22,6 %.
Abb. 4: Anzahl der Anklagen 2010 bis 2019
Außergerichtliche Diversion[4], Eröffnung polizeilicher Ermittlungsverfahren:
Durch eine Umstellung der Fachsoftware ist es seit diesem Jahr möglich, die Daten zu Diversionen und polizeilichen Ermittlungsverfahren zu erfassen. Ein Vergleich mit Vorjahren ist jedoch noch nicht möglich. Die Staatsanwaltschaft hat in 394 Fällen einer Diversion zugestimmt. Auf eine Anklageerhebung wurde in diesen Fällen verzichtet.
Gegen 266 junge Kieler*innen wurde im Zeitraum September bis Dezember 2019 ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eröffnet. Die standardisierte Erfassung dieser Vorgänge ist im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Jugendstrafverfahren von besonderer Bedeutung.
Mehrfachtäter*innen:
Bei der Mehrheit der jungen Menschen, die strafrechtlich relevant in Erscheinung treten, liegt ein vorübergehendes, in der Biografie episodenhaftes Geschehen vor. Es bleibt meist bei einer einzigen Straftat. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der jugendlichen Straftäter*innen mit mehr als sechs Taten deutlich gesunken. Noch stärker ist der verzeichnete Rückgang der Intensivtäter*innen bei den Heranwachsenden. Die Zahlen decken sich mit den Eindrücken der Jugendgerichtshilfe für Heranwachsende. Vom Sozialzentrum Mettenhof wird berichtet, dass ein lockerer Zusammenschluss von bei der Polizei geführten Intensivtäter*innen mittlerweile aufgelöst werden konnte. Gegen alle Beteiligten laufen Verfahren; zwei Jugendliche befinden sich in Untersuchungshaft für zwei weitere hat das Jugendamt ein besonderes Betreuungskonzept entwickelt.
Abb. 5: Junge Straftäter*innen nach Anzahl der Straftaten in 2019
Deliktarten:
Exemplarisch wird auf einige Deliktarten, bei denen es in 2019 deutliche Veränderungen im Vergleich zum Vorjahr gab, Bezug genommen: Bei den Jugendlichen und den Heranwachsenden stieg die Zahl der Raubdelikte von 29 auf 48. Die Anzahl der einfachen und gefährlichen Körperverletzungen (§§ 223/224 StGB) stieg bei den Jugendlichen von 103 auf 150. Bei den Heranwachsenden bleibt es bei 68 Körperverletzungsdelikten. Heranwachsende wurden vergleichsweise stärker im Bereich der Beförderungserschleichung verfolgt (in 2018: 45; in 2019: 127). Es wurden in 2019 weniger Delikte im Bereich Besitz und/oder Handel mit Betäubungsmitteln gezählt. Erfreulicherweise gab es kein Tötungsdelikt (in 2018: 2).
Urteile, Beschlüsse und Verfahrensdauer:
Die eingangs dargestellten Fallbeispiele haben unter anderem verdeutlicht, dass zwischen Tatbegehung, Tatermittlung, Anklageerhebung und dem abgeschlossenen jugendgerichtlichen Verfahren in der Regel viele Monate liegen. Die Lebenswelten junger Menschen und pädagogische Einflussmöglichkeiten erfordern zeitnahe Entscheidungen und ggfs. Sanktionierungen. In diesem Zusammenhang ist es erfreulich, dass sich die durchschnittliche Verfahrensdauer – von der Tat bis zum Urteil – weiter verkürzt hat (in 2018: 9,1 Monate; in 2019: 8,3 Monate). Entsprechend der zeitlichen Verzögerungen beziehen sich die von der Jugendgerichtshilfe erfassten Urteile und Sanktionen auf das Jahr 2018. Die Fallbeispiele haben ferner verdeutlicht, dass im Jugendstrafrecht mehrere Anklagen grundsätzlich gemeinsam verhandelt und mit einer Gesamtsanktion ausgeurteilt werden sollen. Urteile oder Beschlüsse können aus einer Kombination mehrerer Ahndungsmöglichkeiten bestehen (zum Beispiel Verwarnung plus Arbeitsauflage plus Betreuungsweisung). Ein Urteil kann folglich mehrere Anklagen (und damit auch Delikte) und mehrere Sanktionen enthalten.
Die Umstellung der Datenerfassung[5] umfasst erstmalig auch die Kategorie der Urteile und Beschlüsse. In 2018 lag die Anzahl aller vom Jugendgericht erteilten Sanktionen bei 384.
Tab. 2: Anzahl der in 2018 ausgesprochenen Urteile nach Altersgruppen und Geschlecht
Zusammenfassung und Interventionen:
Anhand der städtischen Daten ist zusammenfassend festzustellen, dass im Berichtsjahr 2019 die Jugendkriminalitätsdichte um einen Prozentpunkt auf 4,8 gestiegen ist. Dies entspricht dem Niveau des Jahres 2013. Aus dem nominalen Anstieg lassen sich Schwere und Tragweite der Taten nicht alleine ableiten.
Die Analyse zeigt, dass die Steigerung maßgeblich auf Delikte im Bereich der Bagatellkriminalität zurückzuführen ist. Hierzu zählen einfache Betrugsdelikte und Beförderungserschleichung. Die Zahl der jungen Straftäter*innen mit mehr als sechs Taten ist gesunken. Diversionen und Einstellungen ohne Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft bewegen sich auf dem Niveau der Vorjahre. Die Verfahrensdauer wurde erfreulicherweise um einen knappen Monat verkürzt.
Die kommunale Jugendgerichtshilfe berät in Verfahren, leistet einzelfallbezogene Unterstützung, vermittelt Weisungen und kontrolliert Sanktionen mit dem Ziel, junge Menschen in die Lage zu versetzen, ihre schulische, berufliche und persönliche Entwicklung fortzusetzen und keine weiteren Straftaten zu begehen.
Die (auch unterjährige) Auswertung der Ergebnisse und Entwicklungen in den Stadtteilen im Allgemeinen Sozialdienst führen jeweils kurzfristig zu Interventionen.
So konnte beispielsweise in Mettenhof ein Zusammenschluss junger Menschen, die gemeinschaftlich in unterschiedlichen Konstellationen Delikte verübt haben, aufgelöst werden.
Zwei Jugendliche dieser Gruppierung befinden sich mittlerweile in stationärer Jugendhilfe und sind nicht weiter durch Delinquenz aufgefallen.
Von der Jugendgerichtshilfe für Heranwachsende wird berichtet, dass in 2018 und 2019 einige als Intensivtäter*innen geführte Personen zu Jugendstrafen verurteilt wurden. Einige mussten eine Haftstrafe antreten. Die Jugendgerichtshilfe hält in der Regel während der Haftzeit den Kontakt. Bei anderen wurde die Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Ihnen steht die Bewährungshilfe zur Seite.
Die gute Kooperation aller institutionell Beteiligten ermöglicht, angemessen auf Entwicklungen zu reagieren.
Renate Treutel
Bürgermeisterin
[1] Siehe: Polizeiliche Kriminalstatistik, Polizeidirektion Kiel 2019
[2] Bezugsgröße ist die entsprechende Alterskohorte
[3] Die Datenerfassung in den Sozialzentren wurde in 2018 in quantitativer und qualitativer Hinsicht optimiert. Die zentrale Registrierung über die Arbeitsgruppe der Jugendgerichtshilfe für Heranwachsende sorgt für Datenvalidität. Siehe auch Ausführungen im Bericht zur Jugendkriminalität 2018, LH Kiel, Drucksache 0875/2019
[4] Diversion ist im deutschen Jugendstrafrecht ein Mittel, den jugendlichen Straftäter um ein volles Jugendstrafverfahren "umzuleiten" und damit insbesondere die Hauptverhandlung und eine frühzeitige Stigmatisierung als Straftäter zu vermeiden.
[5] In 2018 wurde das EDV-Verfahren „Info 51“ in das neue Programm „KDO Jugendwesen“ überführt. Im Zuge der Umstellung der Software wurden Erhebungsmerkmale aktualisiert.
