Kieler Erinnerungstag:12. März 1933
Nationalsozialisten ermorden den jüdischen Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel

In der Nacht vom 11. auf den 12. März gegen 1.45 Uhr wurde am Forstweg 42 geklingelt. Dort wohnte der jüdische Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel. Seine Frau fragte durch ein geöffnetes Fenster, was los sei. Die Antwort lautete: „Aufmachen, Polizei.“ Vor der Tür standen zwei Männer, der eine in SA-Uniform. Wilhelm Spiegel öffnete die Tür und bat beide Besucher in sein Arbeitszimmer. Plötzlich fiel ein Schuss. Spiegel war durch eine Kugel in den Hinterkopf tödlich getroffen. Er starb auf dem Wege in die Klinik. „Wilhelm Spiegel war das erste prominente Todesopfer der Nazis in Kiel“ (Udo Carstens).

Ein politischer Mord: Die Nationalsozialisten auf dem Weg zur Macht in Kiel

Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Der folgende Februar war von Wahlkämpfen für die Reichstagswahl am 5. März bestimmt. Am 12. März schließlich fanden Landtagswahlen und Kommunalwahlen in Preußen statt. Die Nationalsozialisten versuchten, diese Wahlen durch großen Propagandaaufwand und massive Behinderungen der anderen Parteien für sich zu gewinnen. Die „Norddeutsche Zeitung“, das Blatt der KPD, wurde am 13. Februar verboten, die Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, das Tagesblatt der SPD, am 16. Februar. Außerdem wurden Wahlveranstaltungen untersagt, Wohnungen und Parteigeschäftsstellen durchsucht, SPD- und KPD-Mitglieder verhaftet. SA-, SS- und Stahlhelmangehörige waren als Hilfspolizisten tätig, was der staatlichen Willkür Tür und Tor öffnete. Am 2. März wurde das Gewerkschaftshaus in der Legienstraße besetzt.

Bei der Reichstagswahl am 5. März gaben 48,2% der Kieler Wähler der NSDAP ihre Stimme. Da zu vermuten war, dass die NSDAP auch bei den Kommunalwahlen die absolute Mehrheit verfehlen würden, schaffte sie vorher in Kiel vollendete Tatsachen. Am 11. März 1933, am Vortag der Kommunalwahl, wurde Oberbürgermeister Emil Lueken vom Regierungspräsident in Schleswig abgesetzt, der ein Gefolgsmann der Nationalsozialisten war. Das Amt des Oberbürgermeisters übernahm zunächst kommissarisch der Kreisleiter der Kieler NSDAP Walter Behrens. In der darauf folgenden Nacht wurde Wilhelm Spiegel ermordet. Er war ein prominenter und entschiedener Gegner der Nationalsozialisten gewesen. Die Nationalsozialisten setzten damit ein brutales politisches Signal: Ihre Herrschaft gründete sich auf Gewalt, die auch vor Mord nicht zurückschreckte.

Wilhelm Spiegel - ein angesehener Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker

Wilhelm Spiegel wurde 1876 in Gelsenkirchen als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Möbelgroßhändler. Nach dem Abitur 1895 studierte Spiegel Jura in München, Berlin, Bonn und Kiel, wo er sich 1905 als Rechtsanwalt niederließ. Promoviert hat Spiegel nicht, auch wenn ihm verschiedentlich ein Doktortitel zugeschrieben wurde. Er wurde ein bekannter Strafverteidiger in Kiel und über Schleswig-Holstein hinaus. Schon 1909 machte er sich einen Namen durch den Freispruch seines Mandanten Siegfried Frankenthal, eines jüdischen Metallgroßhändlers. Diesem warf man Unterschlagungen im großen Stil auf der Kaiserlichen Werft vor. Spiegel und sein Essener Kollege Siegfried Wallach widerlegten die Vorwürfe gegen Frankenthal und seine acht jüdischen Mitangeklagten. Außerdem wiesen sie den Ermittlungsbehörden „ein hohes Maß an Fahrlässigkeit, antisemitischer Voreingenommenheit und willkürlicher Verletzung der Strafprozessordnung nach. Am Ende war nicht mehr von "jüdischem Betrug" und "mosaischen Geschäftemachern" die Rede, sondern von der mangelnden Rechtlichkeit der preußischen Justiz und der Unfähigkeit der kaiserlichen Werftbeamten und Militärs“ (Volker Jakob).

1898 war Spiegel Mitglied der SPD geworden. Von 1911 bis zu seinem Tod gehörte er der Kieler Stadtverordnetenversammlung an, dessen Vorsitzender er von 1919 bis 1924 war. Außerdem wurde er 1909 zum stellvertretenden Vorsitzender der jüdischen Gemeinde gewählt. Am Ersten Weltkrieg nahm Spiegel als Freiwilliger teil. Als die junge Weimarer Republik 1920 durch den Kapp-Putsch in Gefahr war, schaffte er aus Altona mit einer Lokomotive Waffen zur Verteidigung der Republik herbei. Er bewies auch Mut und Tapferkeit, als er sich allein und ohne Schutz in die Kaserne in der Wik begab, wo er mit dem putschenden Freikorps Loewenfeld Verhandlungen aufnahm und erreichte, dass die Kieler Arbeiterschaft den freien Abzug des eingekesselten Bataillon Claassen gewährte. Spiegel hatte damit weiteres Blutvergießen in Kiel verhindert.

Zivilcourage bewies Spiegel auch 1932, als er den Chefredakteur der Schleswig-Holsteinischen Volks-Zeitung (VZ) Kurt Wurbs verteidigte. Im März 1932 hatte Wurbs in dem sozialdemokratisch orientierten Blatt behauptet, Hitler bereite einen Bürgerkrieg vor. Die NSDAP erwirkte beim Amtsgericht eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung gegen die Zeitung und ihren Chefredakteur. Spiegel vertrat Wurbs vor Gericht und wies auf den zunehmenden Straßenterror hin. Hitler gab eine eidesstattliche Erklärung ab, so dass die einstweilige Verfügung gegen die VZ bestehen blieb. In der folgenden Hauptverhandlung, zu der Spiegel Hitler persönlich vorladen wollte, erschien Ernst Röhm als Vertreter und behauptete, von der Vorbereitung eines Bürgerkrieges könne nicht die Rede sein. Das Gericht folgte dieser Argumentation. Die Nationalsozialisten gewannen den Prozess.

Spiegel, der wie bisher vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten verteidigte, wurde nach diesem Prozess von den Nationalsozialisten als Feind angesehen. Nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, hatte Ende Februar 1933 ein hoher SS-Funktionär in Kiel dazu aufgerufen, Spiegel zu erschießen. Am 12. März, in der Nacht vor der Kommunalwahl, für die Spiegel auf der Liste der SPD stand, wurde er dann ermordet.

Wer waren die Mörder?

Am 14. März erschien in den Kieler Neuesten Nachrichten eine Presseerklärung der Regierung in Schleswig, die den Mord an Spiegel bekannt gab, Tatzeugen aufrief, sich zu melden und eine Belohnung von 1000 Mark für die Ergreifung des Täters in Aussicht stellte.

Zeugen sagten aus, dass sie eine größere Person in SA-Uniform und eine kleinere in Zivil gesehen hätten. Die Kreisleitung der NSDAP dagegen behauptete, die KPD hätte die Tat begangen, „um gegen die NSDAP einen weiteren Anlass zur Hetze zu haben. ...[Sie] erklärt hiermit, dass ihre sämtlichen Organisationen der Tat völlig fern stehen ... und dass sie gegen jedes Mitglied der NSDAP, das sich irgendwelcher illegaler Handlungen schuldig macht, rücksichtslos und mit aller Schärfe einschreiten wird.“

Obwohl sich die Zeugenaussagen häuften, dass SS-Mitglieder die Täter gewesen seien, stand der Polizeipräsident Otto Graf Rantzau auf dem Standpunkt der NSDAP, dass die Mörder links zu suchen seien. Ermittlungen gegen verdächtige SS-Leute und einen Sturmbandführer verliefen ergebnislos, so dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen einstellte. Dietrich Hauschild kommt dennoch zu dem Schluss: „Auch ohne dass die Täter namentlich genannt werden können, erlauben die gesammelten Indizien jedoch nur den Schluss, dass es Nationalsozialisten waren, die - in der Nacht zwischen der Machtergreifung ihrer Partei und der Stadtverordnetenwahl - mit dem einflussreichen Stadtverordneten der SPD, Rechtsanwalt und Juden Dr. Spiegel einen dreifachen Gegner aus dem Wege räumten.“ Auch Volker Jakob kommt zu diesem Urteil durch Vergleich mit ähnlichen Morden durch die Nationalsozialisten.

Spiegels Trauerfeier: eine beeindruckende Demonstration gegen die neuen Machthaber

Der Mord an Wilhelm Spiegel blieb ungesühnt. Beeindruckend war die Trauerfeier für ihn, die am 15. März 1933 im Krematorium auf dem Eichhof statt fand. „Der Trauerzug durch die Straßen der Stadt wurde zur letzten stummen Demonstration des republikanisch Kiel gegen die neuen Machthaber“ (Volker Jakob). Arbeiter der Fabriken und Werften hatten ihren Arbeitsplatz verlassen und bildeten Spalier vor dem Krematorium, auf den Friedhofswegen und in der Eichhofstraße. Otto Eggerstedt, der Freund Spiegels und ebenfalls Sozialdemokrat, hielt die Trauerrede. Auch er fiel dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer. Im Oktober 1933 wurde er von einem SS-Mann im KZ Esterwegen II von hinten erschossen.

Posthume Ehrungen

Im Wandelgang des Rathauses erinnert seit 1953 ein Gemälde des Kieler Malers und Graphikers Niels Brodersen an Wilhelm Spiegel. Zum 60. Jahrestag seiner Ermordung ließen Ratsversammlung und Magistrat eine Tafel unter dem Bild mit folgendem Wortlaut anbringen: „Wilhelm Spiegel wurde in der Nacht vor der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung am 12. März 1933 in seiner Wohnung Forstweg 42 von Nationalsozialisten ermordet. Diese Tafel wurde 1993 zum 60. Todestag Wilhelm Spiegels in einer Zeit zunehmender rechtsradikaler Umtriebe angebracht. Geschichte darf sich nicht wiederholen: Nie wieder Faschismus und Rechtsextremismus!“

Im Gebäude des Kieler Landgerichts in der Harmsstraße erinnert ebenfalls eine Gedenktafel an den Rechtsanwalt und Notar Spiegel. Im Neubaugebiet Wellsee wurde eine Straße nach ihm benannt. Und im Forstweg 42 liegt ein Stolperstein mit der Inschrift:“ Hier wohnte Dr. Wilhelm Spiegel“.

Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)


Literatur

Carstens, Udo

Wilhelm Spiegel - das erste Mordopfer der Nazis, in: Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 12. März 2008

Dopheide, Renate

Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Kiel und Umgebung, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 77, 1993, S. 147.

Hauschildt, Dietrich

Juden in Kiel im Dritten Reich, Staatsexamensarbeit, Kiel 1980, S. 51-54, Stadtarchiv Kiel

Jakob, Volker

Wilhelm Spiegel 1876-1933. Ein politisches Leben - ein ungesühnter Tod, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 77, 1993, S. 109-140

Jakob, Volker

Wilhelm Spiegel: Jude - Anwalt - Sozialist, in: Gerhard Paul / Miriam Gillis - Carlebach (Hrsg.): Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918-1998), Neumünster 1998, S. 205-213

Salewski, Michael

Kiel im März 1933, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 68, 1981-1983, S. 173-181

Zeitungen

Kieler Nachrichten

vom 22. August 1986, vom 11. März 1993

Kieler Neueste Nachrichten

vom 14. März 1933

Kieler Zeitung

vom 13. März 1933

Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung

vom 12. März 1958


Abbildungen: Stadtarchiv Kiel


Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 12. März 1933 | Nationalsozialisten ermorden den jüdischen Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel und des Erscheinungsdatums 12. März 2013 zitiert werden.

Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=212

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