Kieler Erinnerungstag:11. März 1933
Die Nationalsozialisten bringen das Kieler Rathaus unter ihre Herrschaft

„Nachdem am Freitagnachmittag auf Ersuchen der Kreisleitung Kiel der NSDAP der Oberbürgermeister Dr. Lueken vom Regierungspräsidenten in Schleswig beurlaubt worden ist, besetzten heute morgen um 9 Uhr SA- und SS-Formationen das Rathaus“. So lautete am 11. März 1933 die amtliche Mitteilung zu den Vorgängen im Kieler Rathaus, die der Selbstverwaltung der Stadt wie überall in Deutschland ein Ende bereiteten.

Adolf Hitler – Reichskanzler in Deutschland

Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 setzte auch der politische Niedergang des demokratischen Systems der Weimarer Republik ein. Die verheerende Wirtschaftskrise führte in Deutschland zur Massenarbeitslosigkeit und vielfach zu sozialem Abstieg. Als die Große Koalition aus SPD, DVP, Zentrum, DDP und BVP am Streit zwischen SPD und DVP um die Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zerbrach, war die parlamentarische Demokratie von Weimar gescheitert. Der Reichstag hatte sich durch Kompromissunfähigkeit selbst ausgeschaltet, denn eine andere Mehrheitsbildung im Parlament war nicht möglich. Die Neuwahlen zum Reichstag im September 1930 brachten Gewinne für die NSDAP (107 Sitze statt zuvor nur 12) und für die KPD (77 statt 4 Sitze), während die übrigen Parteien, außer dem Zentrum, Stimmenverluste hinnehmen mussten. Teile der Bevölkerung hatten von Anfang an der Republik reserviert gegenüber gestanden. Die Wirtschaftskrise erschütterte nun das Vertrauen der Menschen in Demokratie und Parlamentarismus nachhaltig und veranlasste sie, verstärkt radikale Parteien zu wählen. Seit Juli 1932 besaßen Kommunisten und Nationalsozialisten zusammen im Reichstag die absolute Sperrmajorität, die eine geregelte demokratische Arbeit im Parlament blockierte. Der Reichskanzler stützte sich allein auf das Vertrauen des Reichspräsidenten.

Anfang Januar 1933 lag das Angebot einer Koalitionsregierung aus NSDAP und DVP vor. Beiden Parteien fehlten noch 35 Mandate zur Mehrheit im Reichstag; in den Novemberwahlen 1932 hatten die Nationalsozialisten sogar Stimmen verloren, die Deutschnationalen dagegen einige gewonnen. Für Reichspräsident Hindenburg zeigte sich die Möglichkeit einer Regierung, die auf die Mehrheit im Parlament gestützt und in der die DNVP allmählich die stärkste Partei sein würde. So ernannte er widerstrebend am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler einer Koalitionsregierung aus NSDAP und DVP. Neben Hitler gehörten nur noch Frick und Göring von der NSDAP der Regierung an. Papen als Vizekanzler zusammen mit sieben weiteren konservativen Ministern der DNVP glaubten, Hitler ausreichend „einrahmen“ zu können: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht“.

„Kiel huldigt der Regierung Hitler“

In Kiel veranstalteten Mitglieder der SA, SS und des Stahlhelms am 1. Februar zu Ehren von Hitler und Hindenburg einen Fackelzug durch die Innenstadt zum Neumarkt, heute Rathausplatz. Die Kieler Zeitung berichtete am nächsten Tag:

„Das nationale Kiel huldigt der Regierung Hitler. Trotz Wind und Wetter Begeisterung der Kieler Bevölkerung. Man muss das Rad der Kieler Stadtgeschichte weit zurückdrehen, um einen Tag solcher Begeisterung und Anteilnahme feststellen zu können. Viele Umzüge und Veranstaltungen hat Kiel gesehen, bei denen Tausende unterwegs und Begeisterung und Anteilnahme groß waren, noch niemals waren sie so gewaltig und mitreißend gewesen wie am gestrigen Tage. Tausende waren unterwegs! Wer nicht selbst mitmarschierte, umsäumte die Straßen und jubelte den braunen und feldgrauen Bataillonen freudig zu“.

Reichstagswahl vom 5. März 1933 in Kiel

Der Februar 1933 war von Wahlkämpfen bestimmt. Am 5. März fanden die Reichstagswahl und gleichzeitig die Landtagswahlen in Preußen statt, am 12. März die Kommunalwahlen. Die Nationalsozialisten versuchten diese Wahlen durch großen Propagandaaufwand und massive Behinderungen der anderen Parteien für sich zu gewinnen.

Die „Norddeutsche Zeitung“, das Blatt der KPD, wurde am 13. Februar verboten, ihre Büroräume am 28. Februar geschlossen. Die „Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung“, Tagesblatt der SPD, wurde am 16. Februar verboten. Beiden Parteien war damit der Wahlkampf erheblich erschwert. Außerdem wurden Wahlveranstaltungen untersagt, Wohnungen und Parteigeschäftsstellen durchsucht, SPD- und KPD-Mitglieder verhaftet. SA-, SS- und Stahlhelmangehörige waren als Hilfspolizisten tätig, was der staatlichen Willkür Tür und Tor öffnete.

Gleichzeitig lief die nationalsozialistische Propaganda, deren Höhepunkt am 4. März lag, dem „Tag der erwachenden Nation“. Vor dem Kieler Rathaus hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, die der Übertragung von Hitlers Wahlrede aus Königsberg lauschte. „Auch ein gegen 10 Uhr einsetzender Platzregen vermochte die Begeisterung der Menge nicht zu hemmen, die bis zum letzten Ton der Hitler-Rede aushielt“, berichten die Kieler Neuesten Nachrichten.

Am Wahltag waren fast alle wahlberechtigten Kieler unterwegs. Die Wahlbeteiligung lag bei 92,1%. Kranke und Gebrechliche waren vom NS-Wahlschleppdienst zu den Urnen begleitet worden. Die NSDAP konnte 47,7% der Stimmen gewinnen. Das war ihr bisher bestes Ergebnis in Kiel, das damit fast 4% über dem Reichsdurchschnitt lag, aber fast 6% unter dem des Landes. Die absolute Mehrheit hatte die NSDAP in Kiel nicht errungen. Nur zusammen mit dem Koalitionspartner DNVP konnte sie eine Mehrheit von 56,5% auf sich vereinigen. Auffallend aber war, dass die beiden Arbeiterparteien trotz Einschüchterungen, Behinderungen und Unterdrückungsmaßnahmen fast 40% der Stimmen erreichen konnten (SPD: 28,8%, KPD: 11,0%). Für die NSDAP war damit klar, auf wen in Zukunft besonderer Druck ausgeübt werden musste.

In der Nacht zum Montag, dem 6. März, marschierten Nationalsozialisten vor das Kieler Rathaus. Auf dem Rathausturm, dem Stadttheater und allen öffentlichen Gebäuden wurde die Hakenkreuzfahne gehisst. Auf dem Neumarkt verbrannte eine schwarz-rot-goldene Flagge. Die Partei suggerierte Stärke und Sieg. Diese Vorgänge spielten sich nicht nur in Kiel ab, sondern überall in Deutschland. „Das war der Auftakt zur Gleichschaltung der Länder, Städte und Gemeinden, die sich im März und April 1933 überall vollzog“ (Michael Salewski).

SA und SS besetzen das Kieler Rathaus

Es war zu vermuten, dass die Nationalsozialisten bei der Kommunalwahl in Kiel am 12. März ebenfalls nicht die absolute Mehrheit erlangen würden. Sie schufen daher schon vorher vollendete Tatsachen und setzten bei dem bürgerlichen Dr. Emil Lueken an, der seit 1920 in Kiel als Oberbürgermeister amtierte und 1932 für weitere zwölf Jahre bestätigt worden war.

Der Kreisleiter der NSDAP, Kaufmann Walter Behrens, machte Lueken den Vorwurf, dass er „nach dem überwältigenden Ausgang der Reichs- und Landtagswahlen nicht von sich aus hieraus die Konsequenzen gezogen und die drei sozialdemokratischen Stadträte Hoffmann, Schweizer und Pallavicini sofort abgebaut habe“. Lueken betonte, dass demokratisch gewählte Stadträte nicht einfach ihres Amtes enthoben werden könnten, dass man erst das Ergebnis der Kommunalwahl abwarten müsse. Am 10. März war im nationalsozialistischen „Volkskampf“ zu lesen: „Treten sie ab, Herr Oberbürgermeister, und zwar schnell möglichst“. Am Nachmittag des 10. März 1933 erwirkten die Nationalsozialisten beim Regierungspräsidenten die Absetzung Luekens.

Am Abend des 10. März fand eine große öffentliche Kundgebung der Kieler Nationalsozialisten in der „Deutschen Wacht“ statt, auf der der aus Kiel stammende Eckernförder Bürgermeister Sievers bekundete: „Wer heute noch glaubt, über Paragraphen stürzen zu können, wenn es gilt, dem berechtigten Willen des deutschen Volkes Rechnung zu tragen, der hat die Konsequenzen zu ziehen. Deshalb sei diesen Leuten jetzt schon gesagt, dass es am Montag mit dem Staubwedel vorbei ist, und das dann das Großreinemachen mit dem Schrubber beginnt. Das sind wir denen schuldig, die um diese Revolution in den Tod gingen. Wir wollen einen neuen deutschen Staat und ein neues deutsches Volk schaffen. ... Am Anfang unser Denkungsweise steht nicht das Wort ’Recht’, sondern ’Pflicht’!“

Am 11. März handelten dann die Nationalsozialisten in Kiel. In der offiziellen Verlautbarung hieß es: „Nachdem am Freitagnachmittag auf Ersuchen der Kreisleitung Kiel der NSDAP der Oberbürgermeister Dr. Lueken vom Regierungspräsidenten in Schleswig beurlaubt worden ist, besetzten heute morgen 9 Uhr SA- und SS-Formationen das Rathaus. Der Kreisleiter der NSDAP, Behrens-Kiel, eröffnete den anwesenden Abteilungsleitern, Amtmännern, Vertretern der Beamtenschaft sowie den Mitgliedern des Magistrats, soweit sie im Rathaus anwesend waren, den Beschluss der Regierung und teilte ihnen mit, dass er bis auf weiteres die Amtsgeschäfte des Oberbürgermeisters übernehme ...Kreisleiter Behrens ersuchte die versammelten Herren, weiterhin ihre Pflicht zu tun, und erklärte ihnen, dass die Besetzung des Rathauses keine illegale sei, Kiel müsse wieder deutsch regiert werden, das sei Sinn der Aktion“. Durch Willkür und Gewalt hatten die Nationalsozialisten die Macht im Kieler Rathhaus ergriffen.

Ergebnis der Kommunalwahlen in Kiel am 12. März 1933

Nach diesem „Handstreich“ und Terrorakt verlief die Kommunalwahl am 12. März ruhig, bescherte der Kieler NSDAP zwar die meisten Stimmen (28 Sitze), aber nicht die absolute Mehrheit (44,8%). Diese erreichten die Nationalsozialisten erst mit der deutschnationalen „Kampffront Schwarz-Weiß Rot“ (5 Sitze) und der „Nationalen Einheitsliste“ der Vororte Holtenau, Friedrichsort und Pries (3 Sitze). Es gab also eine absolute Mehrheit der „Nationalen Front“ seit dem 12. März in Kiel. Trotz Terror und Unterdrückung erhielt die SPD 20 und die KPD 4 Sitze.

In der Nacht vor der Wahl wurde der jüdische Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel in seinem Haus am Forstweg ermordet. Er war seit 1911 Stadtverordneter und zwischen 1919 und 1924 Stadtverordnetenvorsteher gewesen. Auch für die Kommunalwahl war er wieder von der SPD nominiert worden. Spiegel wurde eines der ersten Opfer der nationalsozialistischen Gewalttaten in Kiel. Am 12. März wurden führende Sozialdemokraten und Kommunisten verhaftet, ihre Wohnungen durchsucht, ein Tag später das Gewerkschaftshaus besetzt. Am 1. April 1933 rief die NSDAP zum Boykott jüdischer Geschäfte auf.

Das Ende der demokratischen Selbstverwaltung

Unabhängig von dem Wahlergebnis vom 12. März setzte die NSDAP ihren Weg zur Alleinherrschaft fort. Durch das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 war die Zuteilung von Sitzen auf Wahlvorschläge der Kommunistischen Partei unwirksam. Damit entfielen die vier Sitze für die KPD, die Anzahl der Stadtverordneten betrug nur noch 60. Am 23. Juni 1933 wurde durch Erlass des Innenminsteriums die SPD als „staats- und volksfeindliches Organ“ bezeichnet und die 20 sozialdemokratischen Stadtverordneten mit sofortiger Wirkung ihrer Mandate enthoben. Nach dem Verbot oder der Selbstauflösung der Parteien erließ die Reichsregierung am 14. Juli 1933 das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“. Von nun war die NSDAP die einzige politische Partei in Deutschland.

Auch die Verwaltung der Stadt wurde gleichgeschaltet. Nachdem Walter Behrens durch einen Handstreich der Nationalsozialisten die Geschäfte des Rathaus übernommen hatte, wählte ihn die Stadtverordnetenversammlung am 28. April 1933 durch Zuruf zum Oberbürgermeister. Durch das Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. September 1933 und die Gemeindeordnung vom Januar 1935 wurde das Führerprinzip in der Gemeindeverwaltung eingeführt. Der Magistrat wurde aufgelöst. Der Oberbürgermeister führte in voller und ausschließlicher Verantwortung die Stadt. Er erhielt sein Amt ebenso wie seine Beigeordneten nicht durch Wahl, sondern wurde vom Innenminister auf Vorschlag des NSDAP-Beauftragten ernannt. Ein Gremium von 17 Ratsherren, ebenfalls von der Partei ernannt, bildeten den Gemeinderat, der den Oberbürgermeister lediglich zu beraten hatte. Ihre Tätigkeit und die des Oberbürgermeisters wurde vom Gauleiter überwacht. Das bedeutete das Ende der städtischen Selbstverwaltung, wie sie Freiherr vom Stein 1808 in Preußen eingeführt hatte.


Quellen:

Verwaltungsbericht der Stadt Kiel,

1. Januar 1933 bis 31. März 1938, S. 5-8

Autorin: Christa Geckeler (1937 - 2014)


Literatur

Erdmann, Karl Dietrich

50 Jahre nach dem 30. Januar 1933. Zur Erinnerung an den Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Vortrag im Schleswig-Holsteinischen Landtag am 25. Januar 1983, hrsg. von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kiel (1983)

Hansen, Silke

Die Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Kiel im Spiegel der Presse, maschr. Examensarbeit, Kiel 1986, Stadtarchiv Kiel

Kieler Nachrichten

vom 11. März 1983

Kieler Zeitung

vom 11. März 1933, vom 12. März 1933, vom 1. April 1933

Klatt, Inge und Horst Peters

Kiel 1933. Dokumentation, hrsg. von der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft zu Kiel, Kiel 1983, S. 3-11

Omland, Frank

Wahlkampf, Wahlzwang, Wahlfälschung: Nationalsozialistische Volksabstimmungen und Reichstagswahlen in Kiel 1933-1938, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 80, 2003, S. 241-247

Salewski, Michael

Kiel im März 1933. Vortrag vor der Kieler Ratsversammlung am 10. März 1983 aus Anlass der widerrechtlichen Besetzung des Rathauses durch die Nationalsozialisten vor 50 Jahren, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 68, 1981-1983, S. 173-181

Talanow, Jörg

Kiel – so wie es war, Band 2, Düsseldorf 1978, S. 5 ff.

Wulf, Peter

Die Stadt auf der Suche nach ihrer neuen Selbstbestimmung (1918-1933), in: Geschichte der Stadt Kiel, hrsg. von Jürgen Jensen und Peter Wulf, Neumünster 1991, S. 325-327

Wulf, Peter

Die Stadt in der nationalsozialistischen Zeit (1933-1945), in: Geschichte der Stadt Kiel, hrsg. von Jürgen Jensen und Peter Wulf, Neumünster 1991, S. 367-369



Dieser Artikel kann unter Angabe des Namens der Autorin Christa Geckeler, des Titels Kieler Erinnerungstage: 11. März 1933 | Die Nationalsozialisten bringen das Kieler Rathaus unter ihre Herrschaft und des Erscheinungsdatums 11. März 2008 zitiert werden.

Zitierlink: https://www.kiel.de/erinnerungstage?id=85

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