Sozialbericht 2022

108 Sozialbericht 2022 eine Plastiktüte in der Hand, in der ein Führungszeugnis, eine Auskunft aus dem zent- ralen Schuldnerverzeichnis und diverse unbezahlte Rechnungen (Telekommunikation und Klarna) befanden. Alle anderen Habseligkeiten lagen noch in der Jugendhilfeein- richtung. Dort sei sie mit 11 Jahren hingekommen, ihr Großvater und Vater hätten sie und ihre sieben Geschwister missbraucht und geschlagen. Mit den Pflegefamilien sei sie nicht klargekommen: „Die war´n bekloppt“. Lesen könne sie ein bisschen, schreiben aber nicht so gut. Sie sei erst auf der Förderschule gewesen und danach in Maßnahmen vom Jobcenter. Als Berufswunsch gab sie an, dass sie am liebsten Friseurin werden wolle. Ein Konto habe sie, da sei aber nichts drauf. „Die beim Jobcenter schicken kein Geld“. Die finanzielle Anbindung beim Jobcenter gelang schnell, da bislang der Antrag auf Arbeitslosengeld II fehlte. Ebenfalls schnell war eine Rücksprache mit der Jugendhilfe- einrichtung möglich. Frau X sei immer schwierig und bockig gewesen, ihr Taschengeld sei schon am 10. des Monats verbraucht, deshalb habe sie auch nicht in den Verselbstän- digungsbereich gekonnt. Eine fachpsychiatrische Anbindung habe man nie gesucht und einer Therapie habe sich Frau X verweigert. Praktika habe sie nicht durchgehalten und seit dem 18. Geburtstag hätte sie nur noch „wilde Sau“ gespielt. Mit der Freundin konnte ich klären, dass Frau X zumindest eine kleine Weile bei ihr bleiben konnte. Ich richtete ein zweites Konto ein, damit ich Frau X regelmäßig Geld einteilen konnte. Es gefiel ihr gut, immer flüssig zu sein. Es gab ein gebrauchtes Handy, damit der Kontakt zu ihr gehalten werden konnte. Das Wohnen in einem betreuten Heim konnte sich Frau X nicht mehr vorstellen. Für eine eigene Wohnung fehlte ihr jedoch noch das Know-how. Den Einzug in eine Wohngemeinschaft hingegen konnte sie sich vorstellen: „Dann will ich eine Katze.“ Also stellte ich einen Antrag auf Eingliederungshilfe für Frau X. Zunächst musste die Abgrenzung zur Jugendhilfe geklärt werden. Das war aufgrund der bestehen- den geistigen Behinderung möglich. Auch eine stationäre Aufnahme in einem Kran- kenhaus sprach ich an. Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass Therapie nicht einfach beginnt, nur weil ein Einweisungsschein organisiert wird. Die Traumatisierung war zu präsent. Frau X lehnte diesen Vorschlag daher erwartungsgemäß ab: „Was soll das Ge- quatsche?“, fragte sie eher rhetorisch. Die bestehende geistige Behinderung ließ außer- dem Zweifel an der Therapiefähigkeit aufkommen. Erreichen konnte ich aber zumindest die Anerkennung einer Schwerbehinderung mit einem Grad von 80 und den Merkzeichen G 103 und B 104 , da Frau X sich im öffentlichen Verkehrsraum nicht gut zurechtfindet. Es war nicht leicht, für Frau X eine eigene Unterkunft mit Betreuung zu finden und durch Rhythmisierung (wiederkehrende Beschäftigung/Tagesstruktur) Vertrauen in sich selbst zu ermöglichen. Eine dazu passende Begleitung durch Pädagogen zu suchen, die ihr die Hände entgegenhalten und darauf hoffen, dass sie diese ergreift und sich abholen lässt, war für mich besonders herausfordernd. Für die Vorstellungsgespräche bei Trägern, organisierte ich für Frau X eine ambulante Betreuung, die sie zu solchen Terminen begleitete und dafür sorgte, dass sie pünktlich da ist. Diese Aufgabe überneh- men Berufsbetreuer nämlich eigentlich nicht selbst. Gleichwohl sind gerade am Anfang 103 Dieses Merkzeichen bedeutet, dass der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Dies gilt nicht nur für „gehbehinderte“ Personen, sondern auch für Menschen mit inneren Leiden. 104 Das Merkzeichen B steht für „Begleitperson“ und berechtigt den schwerbehinderten Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson. Eine dauernde Begleitung ist damit jedoch nicht verbunden. Der*Die Schwerbehinderte kann also bei- spielsweise auch allein mit der Bahn fahren, ist aber jederzeit berechtigt, eine Begleitperson dabei zu haben. UNTERSTÜTZUNG VON ERWACHSENEN IM SOZIALEN NETZ

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