Gertrud Völcker
Geboren am 27. Oktober 1896 in Hamburg
Die Kieler Sozialdemokratin Gertrud Völcker gehört zu den bedeutenden Frauen der Weimarer Republik, die sich am Aufbau sozialer Einrichtungen beteiligt haben. Ihr Wirken gilt besonders dem Schutz und Wohl von Kindern und Jugendlichen.
Ihre Aufzeichnungen Frauen als Mitkämpfer für eine bessere Welt sind wertvolle Informationsquelle der Kieler Stadtgeschichte.
Gertrud Dürbrook wird 1896 als erstes von insgesamt sechs Geschwistern in Hamburg geboren. Obwohl ihr Vater als Kunstschlosser über kein großes Einkommen verfügt, ermöglicht er seinen Kindern eine erweiterte Schulbildung. Nach Abschluss der Volksschule besucht sie eine Privathandelsschule. 1909 zieht sie nach Kiel, wo sie bei einer Handelsfirma eine Ausbildung zur Kontoristin absolviert.
1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges, tritt die junge Pazifistin und aktive Kriegsgegnerin der Sozialistischen Arbeiterjugend bei. Im selben Jahr nimmt sie eine Stelle im Arbeitersekretariat der Freien Gewerkschaften an, einer Rechtsauskunftsstelle für ArbeiterInnen. Hier wird ihr Interesse für sozialpolitische Probleme geweckt und ihr Wille zum aktiven politischen Handeln geprägt. Während der Novemberrevolution 1918 tritt sie der Sozialdemokratischen Partei bei und wird Mitglied der Kinderschutzkommission, deren Aufgabe es ist, Kinder vor ungesetzlicher Kinderarbeit zu schützen.
Zudem schließt sie sich den sozialdemokratischen Frauen an, die sich nach dem Ersten Weltkrieg besonders um gefährdete Kinder kümmern. Die Frauen organisieren sich in Schulungsgruppen, besuchen Volkshochschulkurse, Lesungen oder Theateraufführungen, vertiefen ihr Wissen und bilden sich weiter.
Als sich nach Ende des Ersten Weltkriegs die sozialen Probleme verschärfen, werden Sonderkurse zur Ausbildung von Fürsorgerinnen angeboten. Gertrud Dürbrook nimmt 1920 an den staatlichen Lehrgängen der Sozialen Frauenschule in Hamburg teil und tritt 1921 in Kiel-Gaarden eine Stelle als Sozialfürsorgerin an. Bereits während des Kapp-Putsches im März 1920 schließt sie sich den Arbeitersamaritern an.
1923 folgt die Heirat mit Hans Völcker, den sie in der Arbeiterjugend kennen gelernt hat. Da der Doppelverdienst von Eheleuten gesetzlich untersagt ist, muss Gertrud Völcker nun ihren Beruf aufgeben. Statt dessen übernimmt sie ehrenamtlich den Vorsitz der Kinderwohlfahrt und organisiert Ferienerholungsmaßnahmen. Bei der Sozialistischen Jugend Deutschlands hilft sie mit, Zeltlager und Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche zu veranstalten.
Ebenfalls 1923 übernehmen Gertrud und Hans Völcker gemeinsam die ehrenamtliche Leitung des soeben fertiggestellten städtischen Jugendheims im Werftpark. Das Jugendheim im Arbeiterviertel Gaarden entwickelt sich zum zentralen Ort der Jugend- und Familienarbeit. 1924 wird ihr Sohn Hans geboren.
Gertrud Völcker wird in den 20er Jahren mit Vorträgen zum Thema Fürsorgearbeit, Schulferiengestaltung oder Politische Bildung bekannt, die sie für den Norddeutschen Rundfunk produziert.
Das Ehepaar Völcker engagiert sich in der Kinderfreundebewegung und beteiligt sich an dem legendären sozialistischen Zeltlager Kinderrepublik Seekamp, das 1927 in der Nähe von Kiel stattfindet. Rund 2000 Kinder aus verschiedenen europäischen Ländern nehmen teil.
Von 1928 bis 1933 ist Gertrud Völcker SPD-Stadtverordnete im Kieler Rathaus. Diese Tätigkeit endet jedoch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ebenso abrupt wie die Arbeit im Jugendheim im Werftpark. Als die Hitlerjugend 1933 das Jugendheim besetzt, kündigen Gertrud und Hans Völcker den Vertrag von sich aus, um nicht die Hakenkreuzfahne aufziehen zu müssen und um die Vertreibung ihrer Jugendgruppen durch die Nazis zu vermeiden.
Tätigkeiten im öffentlichen Leben und als Stadtverordnete werden Gertrud Völcker unter Androhung der Inhaftierung vom Polizeipräsidenten untersagt. Der ersten Verhaftungswelle von SozialdemokratInnen durch die Nazis 1933 entgeht sie, weil ihre Genossin Emma Drewanz in einem Verhör über Gertrud Völcker aussagt, dass diese „politisch nichts wert“ sei.
Von 1939 bis Kriegsende arbeitet Gertrud Völcker als Stenotypistin und später als Büroleiterin in einem Anwaltsbüro. Nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler wird sie, wie viele Oppositionelle, am 22. August 1944 von der Gestapo verhaftet und für drei Tage ins Konzentrationslager Russee gebracht. Zweimal entkommt sie der Deportation ins Frauen-KZ Ravensbrück.
Während der anschließenden Inhaftierung im Polizeipräsidiumsgefängnis Blumenstraße tritt Gertrud Völcker bei einem Aufstand der Frauen als deren Sprecherin auf; es folgt ein Verfahren wegen Meuterei. Der Initiative des Anwaltsbüros (ihr Arbeitgeber) ist es zu verdanken, dass sie am 13. September 1944 entlassen wird, allerdings unter der Bedingung, sich nicht wieder politisch zu betätigen.
Gertrud Völcker und ihr Mann halten jedoch weiterhin engen Kontakt zu einigen GenossInnen, mit denen sie auch kleinere Widerstandsaktionen durchführen. Bereits einen Tag nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 führt Gertrud Völckers erster Gang zum Gewerkschaftshaus.
Sie leistet Aufbauarbeit als 1. Vorsitzende der SPD-Frauengruppen für Schleswig-Holstein und Kiel und lässt sich in den SPD-Landesvorstand wählen. Im Dezember 1946 wird sie von der britischen Militärregierung für das Kieler Stadtparlament ernannt und später auch von der SPD in das erste gewählte Parlament entsandt. Ab 1946 ist sie wesentlich am Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt (AWO) auf Landesebene beteiligt und bis 1957 deren erste, ab 1961 zweite Landesvorsitzende.
Im September 1950 wird sie ein weiteres Mal zur Ratsfrau gewählt. Danach sieht Gertrud Völcker von einer weiteren Kandidatur ab, um sich vorwiegend dem Aufbau der AWO zu widmen. Gemeinsam mit ihrem Mann leitet sie von 1951 bis 1959 das Mütterwohnheim der AWO, Haus Tannenberg in Kiel-Molfsee. Dieses kann von der Konzeption als ein Vorläufer der heutigen Frauenhäuser bezeichnet werden.
1961 wird sie Vorsitzende des Ausschusses für Gefangenenfürsorge und Bewährungshilfe und Mitglied im Landesjugendwohlfahrtsausschuss. Im Landesfrauenrat leitet sie seit dessen Gründung Ende 1950 den Sozialausschuss, vertritt dort die AWO und übernimmt von 1963 bis 1965 die Protokollführung. Bis 1971 gehört sie dem Fachausschuss beim Amt für Familienfürsorge an. Gertrud Völcker setzt sich auch für die Errichtung des Jugendhofs Hammer ein.
1978 entstehen Gertrud Völckers Lebenserinnerungen. Unter dem Titel Frauen als Mitkämpfer für eine bessere Welt veröffentlicht sie Interviews, die sie mit Genossinnen und Weggefährtinnen über ihr gemeinsames politisches Leben in Kiel geführt hat. Diese Interviews stellen eine wertvolle und lebendige Informationsquelle der Kieler Stadtgeschichte dar.
1978 stirbt Hans Völcker; sie selbst kommt in ein Pflegeheim in Kiel-Projensdorf, in dem sie bis zu ihrem Tod lebt. Sie stirbt am 16. April 1979 im Alter von 82 Jahren.
(aus: Nicole Schultheiß: "Geht nicht gibt's nicht ..."
24 Portraits herausragender Frauen aus der Kieler Stadtgeschichte. Kiel 2007)