100 Jahre Kieler Rathaus
Stimmen aus dem Jenseits
Einleitung
Jetzt geht es ins Eingemachte. Auf historischen Spuren direkt in das Glanzstück des Kieler Rathauses: in die Rathausturm-Kugel, die eigentlich ein Ellipsoid ist. Doch der Reihe nach!
Wenn ein Haus gebaut wird, zumal ein größeres öffentliches Gebäude, werden oft Gegenstände aus der Bauzeit – wie Pläne oder Zeitungen – mit eingemauert. Beim Kieler Rathaus ging es dazu hoch hinaus. Damals, vor 100 Jahren. Die Kieler hinterließen ganz oben in der goldenen Rathausturmkugel ihre Botschaft an die Nachwelt. Lange Zeit blieb dies wohl ein Geheimnis. Erst 1964, als man die Turmbekrönung im Zuge der ersten Neueindeckung des Rathausturmes zeitweise abbaute, stieß man beim Öffnen der Kugel auf spektakuläre Funde.
In einer Kupfertasche fand man originale Dokumente aus dem Erbauungsjahr 1911 des Kieler Rathauses. In völlig einwandfreiem Zustand. Ein Vermerk aus dem Jahre 1964 gibt Aufschluss über den Inhalt der Kugel. Enthalten waren: ein Bericht über den Bau des Rathauses, handgeschrieben (sehr sauber in Sütterlin); ein Druckband „Bürgerbuch der Stadt Kiel. Sammlungen der städtischen Statute, Regulative und Verordnungen. Kiel 1909“ und ein farbiger Stadtplan. Außerdem waren die großen Köpfe der Zeit verewigt: Der damalige Oberbürgermeister Dr. Paul Fuß und der Rathausarchitekt Professor Hermann Billing traten zurück ans Kieler Tageslicht – als Fotografien.
„Alles“, so heißt es im Vermerk von 1964 weiter, „war in sehr gutem Zustand, auch die Fotografien“. Doch, was macht man nun mit den historischen Funden? Die Kieler entschieden sich – laut Vermerk – „alles wieder so hineinzulegen, wie es war. Ergänzt um aktuelle Sachen.“ Und so geschah es.
Protest über Kiels Dächern
Fast dreißig Jahre später, 1993 wurde nach einem Sturmschaden am Dach die Kugel erneut geöffnet. Und siehe da, alles war an seinem Platz. Doch bei den Dacharbeiten in den 90ern machten die Dachdecker weitere spektakuläre Entdeckungen. Kaiser Wilhelm II., der 1911 bei der Rathauseröffnung zugegen war, wäre seinerzeit sicher „not amused“ gewesen. Unterhalb der Kugel war eine kleinere Kassette versteckt mit einer kritischen Geheimbotschaft der Arbeiter vom Rathausbau.
Diese Kassette ist offenbar bei den Eindeckungsarbeiten von 1964 unbemerkt geblieben. Ein Briefumschlag trug die Aufschrift „Für unsere Nachkommen, anno ultimo“. Auf einen Bestellzettel für Steinwerk hatten Arbeiter ihre politische Forderungen geschrieben: „Werter Leser! Wenn Du diesen Zettel liest, so denk an uns als längst verstorbene Freunde und kämpfende Proletarier für ein gleiches, direktes, geheimes und allgemeines Wahlrecht.“ Auf der zweiten Seite, datiert vom 27. September 1910, sind die Namen der Poliere und Steinmetze aufgeführt. Weitere Stimmen aus dem Jenseits tauchen als Dokumente auf: unter anderem ein Flugblatt des Metallarbeiterverbandes von Kiel und Umgebung, zwei Metallarbeiterzeitungen sowie die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung – Organ für das Arbeitende Volk von 1910.
All diese Dokumente sind damals vom Stadtarchiv gesichtet und ausgewertet worden. Sie sind Zeugnis des Protestes der organisierten Arbeiterschaft gegen das damalige Herrschaftssystem. Die am Bau des Rathauses Beteiligten wollten den offiziellen Dokumenten etwas entgegensetzen: Sie wollten ihr Bekenntnis für ein freieres und soziales Deutschland dokumentieren und späteren Generationen ihre Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel offenbaren. Und, was würden sie heute sagen? Heute schlummern die Dokumente – ergänzt um Zeitzeugnisse der 90er Jahre – wieder friedlich über Kiels Dächern. Na, dann bis zum nächsten Mal, wenn vielleicht weitere Geheimnisse gelüftet werden.
Das Gelbe vom Ellipsoid
Das Ellipsoid enthält Kassetten aus den Jahren 1910, 1964 und 1993. Gemäß der Tradition wurden 1964 und 1993 bei der Neueindeckung des Rathausturmes wieder Dokumente in weitere Kassetten (Urkundentaschen) in die Kugel gelegt.
Was 1964 zusätzlich in die Kugel kam:
- ein Heft „1911 - 1941 – 30 Jahre Kieler Rathaus“
- ein Führer „Das Rathaus zu Kiel“
- zwei Zeitungen: die Kieler Nachrichten (vom 1. September 1964) und
die VZ – Kieler Morgenzeitung (vom 2. September 1964) - Bildband „Kiel“ von Friedrich Kleiser
- Bildband „Kiel einst und jetzt, Teil I und II“ von Hedwig Sievert
Was 1993 zusätzlich in die Kugel kam:
- Zeitungsausschnitte der Kieler Nachrichten (vom 15. Januar 1993 & 12. Mai1993)
- eine Pressemitteilung der Hochbauamtes (vom 5. Mai 1993)
- eine Auflistung der am Bau beteiligten Ämter, Firmen und deren Mitarbeiter
- das Magazin zum 750-jährigen Stadtjubiläum „Kiel Journal 1992“
- eine Münzserie vom Pfennig bis zum 5-Mark-Stück
- die offizielle Jubiläumsmedaille 750 Jahre Stadt Kiel
- ein altes Kupferblech von der Ersteindeckung von 1910 mit Namen zweier Handwerker
- das erste Theaterstück der Gesellschaft der Freunde des Theaters in Kiel
- „Kiel im Industriezeitalter, Wandel und Wunden der Stadt- und Fördelandschaften“,
Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof 1992
Text: Catharina Fehrendt-Lorenzen